Manche Menschen können uns mehr enttäuschen als andere.
Warum ist das so? Es hat mit unseren Erwartungen zu tun. Von manchen Menschen erwarten wir einfach mehr als von anderen. Mehr Erwartung = mehr Raum für Enttäuschung. Eine ganz einfache Gleichung. Manchmal macht eine solche Staffelung von Erwartungen Sinn. Ich denke da an Geschwisterkinder. Von den älteren Kindern wird meist mehr erwartet als von den jüngeren. Sie müssen sich schon reifer verhalten. Mehr mithelfen. Besser verstehen.
Bevor ich anfing für die Kirche zu arbeiten, habe ich Vollzeit in einer Schule und Tagesstätte für Kinder und Jugendliche mit schweren Mehrfachbehinderungen gearbeitet.
Hier galt eine andere Norm. Jüngere Geschwisterkinder von Menschen mit Behinderung müssen oft noch mehr Erwartungen erfüllen als Geschwister von gesunden Kindern. Weil sie gesund sind, müssen sie funktionieren. In jeder Beziehung. In der Beziehung zu ihren Geschwistern, müssen sie verständnisvoll sein und Rücksicht nehmen. In der Beziehung zu ihren Eltern, müssen sie hinnehmen, dass oft weniger Zeit für sie bleibt, weniger Aufmerksamkeit, weniger Energie. Oft funktioniert das eine Zeit lang einigermaßen. Aber irgendwann kommt es zur Rebellion. Zu einem Aufschrei derer, von denen immer mehr erwartet wird als von anderen. Ein innerer Schmerz macht sich Luft. Die Sehnsucht: Bitte sieh mich doch auch! Sieh mich nicht nur mit meiner Gesundheit und meinen Stärken. Sieh auch meine Schwächen und Bedürfnisse. Hör mir zu, wenn ich dir sage oder zeige was ich brauche. Bitte! Eine große Herausforderung für die verantwortlichen Erwachsenen das gut hinzukriegen.
Bis Ostern ist es nun nicht mehr lange hin. Ostern, die Erfüllung all unserer kühnsten Erwartungen. Wir werden gerettet! Wir dürfen frei aus dem Glauben leben, dass Jesus alles überwunden hat, was uns von Gott trennt. Alle Schwachheit, alle Sünde, selbst den Tod. All die Versprechungen über den Messias, die wir im alten Testament lesen werden durch Jesus Christus erfüllt. Kurz vor dem Passafest sagte Jesus zu seinen Jünger*innen:
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wir alles vollendet werden,, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.“ (Lukas 18,31)
Er sagte ihnen außerdem, dass er gefangen genommen und verspottet werden würde. Das sein Tod bevorsteht. „Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede blieb ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.“ (V.34)
Die Jünger*innen hatten eine ganz bestimmte Vorstellung von ihrem Messias. Ein starker, mächtiger Held, der das System der Mächtigen auf den Kopf stellen und den Unterdrückten zu ihrem Recht verhelfen würde. Bestimmt würde er ein Heer aufstellen, oder einfach Feuer vom Himmel regnen lassen um seine Feinde zu vernichten.
Erwartungen, die Jesus allesamt enttäuscht hat. Sein Versprechen die Menschheit zu retten, hat er dennoch gehalten. Aber auf seine ganz eigene Weise. Lange hat es gedauert, bis die am Boden zerstörten und hoffnungslos enttäuschten Jünger*innen das verstanden.
Dabei hat Jesus es ihnen doch gesagt. Hat sie mehrfach darauf hingewiesen wie es kommen wird. Warum konnten sie ihm nicht zuhören? Warum konnten sie nicht begreifen? Warum konnten sie ihre Erwartungen nicht loslassen, oder zumindest anpassen?
Fragen auf die es wohl nur eine Antwort gibt: Weil auch die Jünger*innen nur Menschen waren. Und Menschen machen Fehler. Aber Menschen können auch lernen. Aus ihren eigenen Fehlern und aus den Fehlern anderer. Wir können lernen aus den Fehlern der Jünger*innen. Wir können unserem Gegenüber zuhören. Ihn/Sie ernst nehmen und auf seine/ihre Bedürfnisse eingehen. Wir können unsere Erwartungen auch fallen lassen und unsere Mitmenschen stattdessen einfach so lieben wie sie sind. Jesus hat sich in seinen letzten Tagen sehr einsam gefühlt, weil seine Freund*innen ihn einfach nicht verstehen konnten. Wir haben es in der Hand, dass sich dieser Aspekt der Geschichte nicht wiederholt, an keinem Gotteskind. Amen.
Es wünscht euch eine gesegnete Woche, eure Pfarrerin Anne Mika.