„Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ (Daniel 9,18b)
In diesem Wochenspruch werden die Kategorien menschlicher Gerechtigkeit und göttlicher Barmherzigkeit einander gegenübergestellt. Ein bisschen was zum Kontext: Auch wenn die Geschichte des Weisen Daniel erst sehr viel später aufgeschrieben wurde, spielt sich doch in der Zeit des sogenannten babylonischen Exils (597-539 v. Chr.). Ihre Heimat ist erobert und zerstört. Das Volk Israel lebt zerstreut unter den mächtigen Fremdvölkern. Und wie bei jeder Katastrophe stellt sich die Frage nach dem „Warum?“.
„Ach HERR, du großer und ehrfurchtgebietender Gott! Du stehst in unerschütterlicher Treue zu deinem Bund und zu denen, die dich lieben und nach deinen Geboten leben. Wir sind schuldig geworden, wir haben dir die Treue gebrochen, wir haben uns gegen dich aufgelehnt und deine Gebote und Weisungen nicht befolgt. Wir haben nicht auf die Warnungen deiner Diener, der Propheten, gehört, die in deinem Auftrag unseren Königen und führenden Männern, den Sippenoberhäuptern und dem ganzen Volk ins Gewissen geredet haben. Du, HERR, hast zu deinem Bund gestanden, du bist im Recht, wenn du uns so hart gestraft hast. Wir aber müssen beschämt vor dir stehen, die Leute von Juda und Jerusalem und alle Israeliten nah und fern, die du wegen ihres Treuebruchs verstoßen und unter die Völker zerstreut hast.“ (Daniel 9,4b-7)
Dies ist die Antwort des Daniel auf diese Frage nach dem „Warum?“. Israel hat seinen Gott vernachlässigt, nicht umgekehrt, damit wurde diese Katastrophe möglich. Ich frage mich: Ist das nicht eine Einschätzung nach menschlichen Maßstäben? Wird damit nicht nach menschlicher Gerechtigkeit geurteilt? Dem Volk geht es schlecht. Dies wird als göttliche Strafe gesehen. Wenn die Strafe so hart ist, dann muss auch das Vergehen richtig schlimm gewesen sein. Denn Gott ist immer gerecht. Aber genau da wird es meiner Ansicht nach schief. Denn nach menschlichem Dafürhalten ist Gott eben nicht immer gerecht. Manch einem Verbrecher geht es glänzend, er/sie ist gesund und wohlhabend auch wenn er sich grausam und rücksichtslos verhält. Auf der anderen Seite ist die Welt voll von Alleinerziehenden und Familien, die jeden Tag darum kämpfen ihre Kinder zu ernähren und sie in die Schule schicken zu können. Menschen, die das Wenige, das sie haben dennoch jederzeit bereit sind mit dem hungrigen Fremden zu teilen, der bei ihnen an die Tür klopft. Da schreit die Ungerechtigkeit doch zum Himmel.
„Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ (Daniel 9,18b)
Ich finde dies ein sehr eindrückliches Bild. Ein Mensch, derart am Boden zerstört, dass er/sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Liegend auf der Erde. Von der Welt erwartet er/sie nichts mehr. Zu groß ist die Katastrophe, die über ihn/sie hereingebrochen ist. Es bleibt nichts mehr zu tun, als zu beten. Ganz am Ende der eigenen Möglichkeiten angekommen wendet sich dieser Mensch an Gott. Vertraut sich Gott an. Setzt sein Vertrauen auf Gott. Der Einzigen Macht, die jetzt noch helfen kann. Den Retter, der Wunder bewirkt, so erzählt man sich. Und nein, dieser Mensch fragt nicht nach Gerechtigkeit. Er/Sie fragt nach Barmherzigkeit. Gnade. Hier wird aus der Heilshoffnung des Alten Testamentes die frohe Botschaft des Evangeliums. Gott will nicht unser Verderben oder unsere Vernichtung. Egal wie sehr wir diese vielleicht verdienen mögen. Das verkündigt uns Jesus Christus. Er ist zu den Menschen gekommen, die gesündigt haben. Zu den Zöllnern, zu den Ehebrechern, sogar den verurteilten Mördern am Kreuz hat er sich zugewandt. Und dann war er barmherzig. Der Retter, der Wunder bewirkt. Göttliche Barmherzigkeit statt menschlicher Gerechtigkeit. Warum musste das Volk Israel, dann ins Exil? Warum musste ihr Tempel zerstört und ihre Heimat erobert werden? Menschen tun Menschen schreckliches an. Genauso wie Menschen anderen Menschen Liebe, Freundschaft und Unterstützung schenken. Beide Möglichkeiten sind in der Freiheit inbegriffen, die Gott uns schenkt. Ehren wir dieses Geschenk und entscheiden wir uns für das Gute! Amen.
Es wünscht euch eine gesegnete Woche, eure Pfarrerin Anne Mika.