Angedacht

Thu, 06 Oct 2022 06:10:06 +0000 von Anne Mika

© Anne Mika
Ich bin als Frau in einer westlichen Kultur groß geworden, die ein ganz bestimmtes Schönheitsideal hat, was den weiblichen Körper betrifft. Ebene Gesichtszüge, lange Beine, wohlgeformte Brüste und vor allem anderen SCHLANK! 
Zahlreiche Mädchen haben sich an diesem Ideal regelrecht zugrunde gerichtet. Haben schon mit zwölf oder dreizehn Jahren angefangen alle möglichen Diäten auszuprobieren. Sich im Spiegel angesehen und immer nur hässlich gefunden. In den schlimmsten Fällen haben sie eine Essstörung entwickelt und oft jahrelang um ihre Gesundheit, ja um ihr Leben kämpfen müssen. 
All das ist so dramatisch wie es klingt. Menschen, die sich „freiwillig“ zu Tode hungern. Weil ein Schönheitsideal ihnen etwas als erstrebenswert vorgaukelt, was es gar nicht ist. 
Erst sehr viel später, als wir alle in den 20ern waren haben meine Freundinnen und ich angefangen uns mal wirklich offen darüber zu unterhalten. Wir haben alle mehr oder weniger das gleiche durchgemacht. Wirklich zufrieden war keine mit sich und ihrem Körper. Vielleicht hätte es geholfen wenn wir uns früher schon einmal so ausgetauscht hätten. Denn ich habe meine Freundinnen immer als wunderschön angesehen. Und siehe da, sie mich umgekehrt auch. Vielleicht hätte es uns allen geholfen, das mal öfter voneinander zu hören. 
Nun lebe ich als Frau in Tansania. In einer Kultur wo es ebenfalls ein ganz bestimmtes Schönheitsideal gibt, was den weiblichen Körper betrifft. Volle Brüste, ein großer und runder Hintern, stämmige Beine, ein rundes Gesicht. So beschreiben zumindest die Frauen in meinen Gesprächsgruppen wie sie gerne aussehen möchten. 
Es ist ein Ideal was für viele unerreichbar ist. Aus dem schlichten Grund, dass es an genügend Einkommen fehlt um genug Essen für sich und die Familie zu kaufen. Viele Menschen in diesem Land sind unterernährt. Hungern, alles andere als freiwillig. 
Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. 
So lautet der Spruch für diese Woche aus Psalm 145 Vers 15. 
„Gott gibt uns Speise zur rechten Zeit.“ Für mich, die ich in meinem Leben eigentlich nie Mangel, sondern eher nur Überfluss erfahren habe ist dieser Satz erst einmal unproblematisch. 
Wie muss er sich für jene lesen, die das Gegenteil erlebt haben? 
Neulich las ich eine Anekdote aus dazu: 
Rabbi Michael, ein Chassid, lebte in großer Armut, aber die Freude verließ ihn nicht für eine Stunde. Jemand fragte ihn, wie er jeden Tag beten könne: „Gesegnet, der mir alles, dessen ich bedarf, gewährt.“ Er wisse doch, dass ihm alles, wessen der Mensch bedarf, fehle. „Sicherlich ist, wessen ich bedarf, die Armut. Und die ist mir gewährt“ antwortete der Rabbi.“ 
Die Welt ist ungerecht und paradox und an vielen Stellen regelrecht unverständlich. Ich werde nie begreifen wie es sein kann, dass die einen von allem so viel und die anderen kaum das allernötigste haben. Die Geschichte vom Rabbi Michael lässt mich schmunzeln, aber es ist ein Schmunzeln mit bitterem Beigeschmack. Könnte ich so unbeirrt an Gott und seiner Güte und Weisheit festhalten, wenn es mir so schlecht ginge? Würden meine Augen immer noch auf den HERRN warten. Unbeirrt hoffnungsvoll in die Zukunft blicken in der gläubigen Zuversicht, dass meine Speise kommen wird zur rechten Zeit. Könnte ich so demütig dankbar sein wie Rabbi Michael? 
In Deutschland hungern Menschen freiwillig um abzunehmen. In Tansania hungern Menschen unfreiwillig und kämpfen mit Unterernährung und ihren Folgen. Beide Seiten leiden Not auf ihre ganz eigene Weise. 
In einer perfekten Welt ginge es allen besser. Die Umverteilung der Güter auf die verschiedenen Erdteile würde optimal funktionieren, alle hätten genug. Jede und jeder seine Speise zur rechten Zeit. Von dieser perfekten Welt sind wir Lichtjahre entfernt. Aber wenn wir unser aller Augen auf Gott richten, dann kann sie trotzdem schon anbrechen. Wenn wir zu Botschaftern werden, des Himmelreiches, umverteilen so gut wir eben können an dem Ort an welchen wir gestellt sind, dann ist schon viel gewonnen. Und dabei geht es nicht nur um materielle Umverteilung, um Spenden oder Ernährungsprogramme. Es geht auch um geistliche Umverteilung. Das wir uns gegenseitig eben öfter zusprechen: Mensch, du bist schön, so wie du bist! Amen.


Es wünscht euch eine gesegnete Woche, eure Pfarrerin Anne Mika. 
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